Keine vorübergehende Krise, sondern ein institutionelles Repressionsregime

Die Menschenrechtslage in der Türkei 2025

Die Probleme im Bereich der Menschenrechte in der Türkei lassen sich längst nicht mehr mit einzelnen Fällen erklären. Unser als Weltanwälte e.V. erstellter „Menschenrechtsverletzungsbericht 2025“ führt die Erfahrungen verschiedener gesellschaftlicher Gruppen und die von uns vor Ort erhobenen Daten zusammen und zeigt, dass sich das Bild in Wahrheit zu einem dauerhaften und institutionalisierten Repressionsregime verdichtet.

Keine vorübergehende Sicherheitskrise

Ein neues Regierungsmodell

Eine der zentralen Feststellungen des Berichts lautet so. Menschenrechtsverletzungen in der Türkei sind nicht länger auf Ausnahmezeiten und Maßnahmen des „Ausnahmezustands“ beschränkt. Sie sind zu einer dauerhaft angewandten Regierungstechnik geworden, die in den Alltag des staatlichen Handelns eingedrungen ist.

Dabei wird der Menschenrechtsdiskurs nicht nur verengt, er wird instrumentalisiert, um die Legitimität der politischen Macht zu produzieren und die gesellschaftliche Kontrolle zu erhöhen. In einem solchen Umfeld entfernen sich Rechte davon, allgemein gültige, vorhersehbare und universelle Normen zu sein. Sie werden zu „strategischen Instrumenten“, die je nach politischer Präferenz gedehnt und neu definiert werden.

Um dieses Bild zu verstehen, genügt es nicht, Menschenrechtsverletzungen nur anhand einzelner Betroffenheiten zu betrachten. Man muss sie vor dem Hintergrund der Transformation des politischen Regimes und des Neubaus der Beziehungen zwischen den Institutionen analysieren. Zwischen Sicherheitsbürokratie, Justiz, Verwaltungsbehörden, Regulierungsinstanzen und Medienaufsichtsorganen hat sich eine sich gegenseitig speisende Repressionsarchitektur herausgebildet. In der Literatur wird diese Struktur als „horizontal konsolidierter Autoritarismus“ bezeichnet.

Die Transformation der Justiz

Wie das Rückgrat der Rechtsstaatlichkeit geschwächt wird?

Eines der auffälligsten Felder in den Daten für 2025 ist der Erosionsprozess der richterlichen Unabhängigkeit. Der Bericht zeigt, dass die Justiz zunehmend zu einem „verwaltungsähnlichen Arm“ der Exekutive wird.

Besonders folgende Dynamiken stechen hervor.

• Urteile der obersten Gerichte werden von Gerichten niedrigerer Instanz nicht umgesetzt

• Die innergerichtliche Hierarchie fragmentiert sich und exekutivnahe Blöcke gewinnen an Einfluss

• Loyalitätsbasierte Personalpolitik und der Abbau justizieller Sicherheiten

Auf internationaler Ebene gehört die Türkei vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte weiterhin zu den Ländern mit den höchsten Verletzungsquoten, unter anderem im Bereich der Meinungsfreiheit, der Versammlungs und Demonstrationsfreiheit, des Schutzes vor willkürlicher Inhaftierung und des Rechts auf ein faires Verfahren. Die systematische Nichtumsetzung von EGMR Urteilen macht nicht nur das Ausmaß der Verstöße deutlich, sondern offenbart auch den mangelnden Willen des Staates, sich an das Völkerrecht zu halten.

Gruppenbasiertes Repressionsregime.

Wer steht im Visier?

Eine weitere zentrale Erkenntnis des Berichts lautet so. Die Verstöße sind nicht mehr primär individuell, sondern organisieren sich zunehmend als „gruppenbasierte Repressionsregime“, die bestimmte gesellschaftliche Gruppen ins Visier nehmen. Die Begründungen erscheinen unterschiedlich, die entstehenden Muster ähneln sich jedoch in hohem Maße.

• Weit gefasste Terrorismusvorwürfe

• Willkürliche Festnahmen und lang andauernde Untersuchungshaft

• Beschlagnahme von Vermögenswerten und Enteignung

• Digitale und physische Überwachung

• Soziale und wirtschaftliche Ausgrenzung, die zu einem „zivilen Tod“ führt

• Diskriminierende Praktiken im Strafvollzug

In diesem Rahmen treten in unserem Bericht insbesondere die folgenden Gruppen hervor.

Personen mit tatsächlicher oder vermeintlicher Nähe zur Gülen/Hizmet Bewegung

Angehörige der Gülen/Hizmet Bewegung und breite gesellschaftliche Gruppen, die mit der Bewegung in Verbindung gebracht werden und seit 2016 im Zentrum der neu aufgebauten Sicherheitsarchitektur stehen, sind auch im Jahr 2025 weiterhin Ziel eines fortdauernden, vielschichtigen und diskriminierenden Repressionsregimes.

• Dass Elemente wie Kontobewegungen, die Mitgliedschaft in Vereinen oder Schulen, der Vorwurf der Nutzung von ByLock, die Mitgliedschaft in Gewerkschaften, ein Zeitungsabonnement oder sogar das soziale Umfeld automatisch als „Organisationsbeweis“ gewertet werden, ist mit den Grundprinzipien des Strafrechts unvereinbar.

• Wie auch der EGMR im Fall Yalçınkaya gegen Türkei feststellt, beinhalten diese Praktiken schwerwiegende Verstöße sowohl gegen das Gesetzlichkeitsprinzip als auch gegen das Recht auf ein faires Verfahren.

• Massenentlassungen per Notstandsdekreten, Passentziehungen, Zwangsverwalterbestellungen und massenhafte Beschlagnahmen bedeuten nicht nur Eingriffe in wirtschaftliche Rechte, sondern stellen die politische und gesellschaftliche Bestrafung einer großen Bevölkerungsgruppe dar.

• Die hohen Anerkennungsquoten von Asylanträgen dieser Gruppe in Europa und Nordamerika zeigen, dass auf internationaler Ebene anerkannt wird, wie groß das Risiko im Falle einer Rückführung ist.

Zusammenfassend gehören die Repressionen gegen Angehörige der Gülen/Hizmet Bewegung zu den sichtbarsten Beispielen für den „gruppenbasierten“ Charakter der Autoritarisierung in der Türkei.

Die kurdische Bewegung und kurdische Bürgerinnen und Bürger

Im Jahr 2025 erleben wir in der Kurdenfrage eine Phase, in der die PKK erklärt hat, ihre bewaffneten Aktivitäten zu beenden und ihre Organisationsstrukturen aufzulösen, zugleich setzt der Staat seinen sicherheitsorientierten Ansatz gegenüber den lokalen Verwaltungen weitgehend unverändert fort.

• Die Praxis, bei von der HDP geführten Kommunen Zwangsverwalter einzusetzen, dauert an. In vielen Orten sind nach wie vor ernannte Treuhänder anstelle der gewählten Vertreter im Amt.

• Die Nichtumsetzung des EGMR Urteils im Fall Selahattin Demirtaş bedeutet nicht nur eine Verletzung seiner individuellen Freiheitsrechte, sie stellt zugleich einen Bruch mit dem Grundsatz der Verbindlichkeit der EGMR Entscheidungen dar.

• Hassrede und rassistische Sprache gegenüber Kurdinnen und Kurden werden sowohl im politischen Diskurs als auch in den sozialen Medien zur Normalität.

• Strukturelle Hürden gegenüber der kurdischen Sprache führen faktisch zu einer Einschränkung von Sprach und Kulturrechten.

Trotz Friedensgesprächen bleibt das sicherheitsorientierte Paradigma prägend und es ist ein fortgesetzter struktureller Rückschritt im Bereich lokaler Demokratie und kultureller Rechte zu beobachten.

Druck auf die CHP, CHP-Bürgermeisterinnen und -Bürgermeister sowie oppositionelle Politikerinnen und Politiker

Der Bericht zeigt, dass eine der sichtbarsten Manifestationen der Verengung des politischen Raums bei der CHP und insbesondere über die Großstadtkommunen zu beobachten ist.

• Ermittlungen, Festnahmen, Inhaftierungen und Diffamierungskampagnen gegen Bürgermeisterinnen und Bürgermeister sind nicht nur einzelne Fälle. Sie sind Teil einer breiter angelegten Strategie, die institutionelle Handlungsfähigkeit der Opposition zu schwächen.

• Die willkürliche Einschränkung finanzieller Mittel, jahrelange Verzögerung von Projekten, aufeinanderfolgende Prüfungen und gesetzliche Änderungen, die die Zuständigkeiten der Kommunen beschneiden, untergraben die lokale Autonomie.

• Die gegen Ekrem İmamoğlu geführten Gerichtsverfahren und seine Inhaftierung im Jahr 2025 verstärken die Sorge, dass der politische Wettbewerb über justizielle und bürokratische Mechanismen neu gestaltet wird.

Diese Entwicklungen deuten darauf hin, dass sich in der Türkei, obwohl formal weiterhin wettbewerbliche Wahlen stattfinden, faktisch die Dynamiken eines „kompetitiven Autoritarismus“ verstärken.

Journalistinnen und Journalisten und die Pressefreiheit

Im Jahr 2025 herrscht in der Türkei sowohl im Bereich der traditionellen als auch der digitalen Medien ein massives Repressionsklima.

• Journalistinnen und Journalisten sehen sich wegen ihrer Berichterstattung, ihrer Beiträge in sozialen Medien oder ihrer Kommentare strafrechtlichen Ermittlungen, Festnahmen und Inhaftierungen ausgesetzt.

• Sanktionen des Rundfunkrats RTÜK wie Lizenzentzug, Sendeverbote und hohe Geldstrafen erzeugen insbesondere auf regierungskritische Medien einen starken Druck zur Selbstzensur.

• Zugangssperren für Internetseiten und das schnelle Entfernen von Inhalten in sozialen Medien machen auch den digitalen Raum faktisch zu einem Feld der „Überwachung und Kontrolle“.

• Dass die Täter körperlicher Angriffe auf Journalistinnen und Journalisten häufig straflos bleiben, entfaltet eine faktisch ermutigende Wirkung auf solche Gewalt.

Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte und das Recht auf Verteidigung

Der Druck auf die Verteidigung deutet auf eine strukturelle Aushöhlung des Rechts auf ein faires Verfahren hin.

• Die Antiterrorgesetzgebung wird so weit ausgelegt, dass sie auch Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte einbezieht.

• Anwältinnen und Anwälte werden mit ihren Mandantinnen und Mandanten gleichgesetzt, strafrechtlich verfolgt, ihre Kanzleien werden durchsucht, ihre Akteneinsichtsrechte eingeschränkt.

• Das Anwaltsgeheimnis wird in der Praxis von Polizei, Strafvollzug und Justiz in gravierender Weise verletzt.

• Dass Anwaltskammern und Berufsverbände keine hinreichend starke und prinzipienorientierte institutionelle Antwort geben, vertieft die Angriffe auf das Verteidigungsrecht weiter.

Frauen

Die Menschenrechtsverletzungen, denen Frauen ausgesetzt sind, verschärfen sich sowohl durch den Abbau rechtlicher Schutzmechanismen als auch durch vertiefte geschlechtsbezogene Diskriminierung.

• Unzureichende Ermittlungen in Fällen von Gewalt gegen Frauen und die Nichtumsetzung von Schutzmaßnahmen nähren einen Kreislauf der Straflosigkeit.

• Feministische Organisationen und Frauenrechtsverteidigerinnen werden mit Demonstrationsverboten, Verwaltungsgeldstrafen und Festnahmen konfrontiert.

• Die negativen Folgen des Austritts aus der Istanbul Konvention sind in der Praxis besonders bei geflüchteten Frauen, bei Frauen in ländlichen Regionen und bei wirtschaftlich prekarisierten Frauen deutlich spürbar.

Kinder

Kinder sind mehrfachen Risiken ausgesetzt, etwa Armut, unsicheren Wohnverhältnissen, Unterbrechungen in der Bildung und fehlender psychosozialer Unterstützung.

• Für geflüchtete Kinder, Kinder in benachteiligten Regionen und Kinder mit inhaftierten Eltern sind die Risiken noch höher.

• Das Hineindrängen in Erwerbsarbeit, Ausbeutung und die Tendenz, die Schule abzubrechen, verbinden sich mit sozialer Ausgrenzung.

• Obwohl das Prinzip des Kindeswohls im Recht verankert ist, wird es in der Praxis häufig ignoriert.

LGBTI+ Personen

Für LGBTI+ Personen bedeutet das Jahr 2025 ein weiter verschärftes Klima der Repression.

• Pride Märsche sind seit langer Zeit faktisch verboten. Polizeiliche Übergriffe, Festnahmen und Fälle von Hassrede bleiben straflos.

• Der Entwurf des Justizpakets birgt das Risiko, die Existenz von LGBTI+ direkt zu kriminalisieren, indem „dem biologischen Geschlecht und der allgemeinen Moral widersprechende Handlungen“ unter Strafe gestellt werden sollen.

• Beschränkungen des Zugangs von trans Personen zu Gesundheitsleistungen und zum Prozess der Geschlechtsangleichung vertiefen die Menschenrechtsverletzungen.

Geflüchtete und Asylsuchende

Geflüchtete und Asylsuchende befinden sich sowohl in Bezug auf ihren rechtlichen Status als auch hinsichtlich ihrer Lebensbedingungen in einer besonders verletzlichen Lage.

• Mangelnde Transparenz in Verfahren des internationalen Schutzes und Schwierigkeiten beim Zugang zum Recht auf anwaltliche Vertretung verschärfen die Unsicherheit.

• Fälle, in denen das Prinzip der Nichtzurückweisung faktisch verletzt wird, stellen ein gravierendes Problem des Völkerrechts dar.

• Illegale und prekäre Beschäftigung, schlechte Wohnbedingungen und insbesondere in den Grenzprovinzen systematische diskriminierende Praktiken verletzen die Grundrechte von Geflüchteten.

• Berichte über Misshandlungen in Abschiebe und „Rückkehr“ zentren und der Druck zu „freiwilliger Rückkehr“ stehen in klarem Widerspruch zu internationalen Standards.

Offener Konflikt mit internationalen Verpflichtungen

Der Bericht legt im Detail die Kluft zwischen den Verträgen offen, denen die Türkei im Rahmen des Europarats und der Vereinten Nationen beigetreten ist, und der aktuellen Praxis.

Die in Kernbereichen wie Meinungsfreiheit, Vereinigungsfreiheit, Recht auf ein faires Verfahren, Verbot von Folter und Misshandlung, Diskriminierungsverbot und Asylrecht festgestellten Verletzungen sind mit der Europäischen Menschenrechtskonvention und den UN Menschenrechtsabkommen unvereinbar.

Obwohl der EGMR und die UN Vertragsorgane wiederholt Verstöße festgestellt haben, ist zu beobachten, dass im innerstaatlichen Recht die strukturellen Schritte, die diese Entscheidungen erfordern würden, nicht unternommen werden.

Was ist zu tun?

Der Bericht beschränkt sich nicht darauf, die aktuelle Lage zu diagnostizieren, er enthält zugleich Appelle an nationale und internationale Akteure.

• Die Organe des Europarats, die Institutionen der Europäischen Union und die Mechanismen der Vereinten Nationen sollten sich bei der Beobachtung der Türkei nicht nur auf Einzelfälle konzentrieren, sondern auf die in diesem Bericht aufgezeigten strukturellen Muster.

• Die Umsetzung der EGMR Urteile muss wirksam überwacht werden. Politisch motivierte Verfahren sollten in den Kontrollmechanismen als vorrangige Fälle behandelt werden.

• Den Mitgliedstaaten sollte das Verbot der Zurückweisung klar und verbindlich in Erinnerung gerufen werden.

• Verstöße gegen die Rechte von Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten und gegen das Verteidigungsrecht sollten von Berufsverbänden und internationalen Anwaltskammern genauer beobachtet werden.

Als Weltanwälte e.V. sind wir überzeugt, dass der Autoritarisierungsprozess in der Türkei umkehrbar ist. Voraussetzung dafür ist sowohl die Stärkung eines demokratischen und rechtsbasierten politischen Willens im Inneren als auch ein kohärenter, prinzipienorientierter und menschenrechtszentrierter Ansatz der internationalen Institutionen.

Wir hoffen, dass dieser Bericht in den Beobachtungs und Berichtsprozessen zur Türkei, bei länderspezifischen Empfehlungen und in Individualbeschwerdeverfahren als ergänzende Quelle genutzt wird, die Stimmen verschiedener Opfergruppen sichtbar macht und zu den gemeinsamen Anstrengungen für die Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit beiträgt.

Zugang zum vollständigen Bericht

Für alle Daten, Feldbefunde, Fallanalysen und rechtlichen Bewertungen empfehlen wir den Blick in den vollständigen Bericht.

👉 Klicken Sie hier, um den „Menschenrechtsverletzungsbericht 2025“ als PDF herunterzuladen.

Weltanwälte e.V.

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