Das türkische Verfassungsgericht (AYM) hat in seiner Entscheidung vom 09.12.2024 mit der Antragsnummer 2023/102717 die Individualbeschwerden von Antragstellern, deren Anträge auf Wiederaufnahmeverfahren von den unteren Gerichten abgelehnt wurden, ebenfalls zurückgewiesen. Dabei berief sich das Gericht auf die Verletzungsfeststellung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) im Fall Yüksel Yalçınkaya. Die Ablehnung wurde mit der Begründung erteilt, dass die von den Antragstellern vorgebrachten Verletzungsansprüche, die die Ablehnung ihrer Wiederaufnahmeverfahren betreffen, „nicht unter das Recht auf ein faires Verfahren fallen, da sie sich nicht auf einen gerichtlichen Prozess beziehen, in dem eine strafrechtliche Anklage geprüft wird.“ Mit anderen Worten: Das Gericht ignorierte die objektive Wirkung der Entscheidung im Fall Yüksel Yalçınkaya und argumentierte, dass die Antragsteller nicht unmittelbar Partei des vom EGMR entschiedenen Falls waren.
Die Wirkungen von Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) bei Individualbeschwerden lassen sich in zwei Hauptkategorien unterteilen: subjektive und objektive Wirkungen.
Die subjektive Wirkung bezieht sich darauf, dass Entscheidungen des EGMR ausschließlich für die Beschwerdeführer begrenzte Konsequenzen haben. Der EGMR handelt auf Grundlage individueller Beschwerden, prüft, ob in dem vorliegenden Fall eine Verletzung vorliegt, und stellt sicher, dass der Beschwerdeführer eine Entschädigung für den erlittenen Schaden erhält.
Die objektive Wirkung von EGMR-Entscheidungen hingegen geht über die Lösung eines individuellen Rechtsstreits hinaus. Sie besitzt eine generelle Steuerungsfunktion, die die Rechtssysteme und Praktiken der Vertragsstaaten beeinflusst.
Bevor das Verfassungsgericht seine Entscheidung vom 09.12.2024 mit der Antragsnummer 2023/102717 hinsichtlich der objektiven Wirkung von EGMR-Entscheidungen prüft, ist eine kurze Zusammenfassung der Entscheidung des EGMR im Fall Yüksel Yalçınkaya notwendig.
Die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte stellte am 26. September 2023 in ihrer Entscheidung Nr. 15669/20 fest, dass die Verfahren und die erhobenen Anschuldigungen gegen den Lehrer Yüksel Yalçınkaya nicht mit der Europäischen Menschenrechtskonvention vereinbar waren. Der EGMR stellte insbesondere fest, dass die Einstufung einer Organisation als „Terrororganisation“ gemäß türkischem Recht von einer gerichtlichen Entscheidung abhängt. Das Gericht hob hervor, dass lokale Gerichte und die Regierung die Nutzung der ByLock-Anwendung als allein ausreichenden Beweis für eine Verurteilung ansahen, während Mitgliedschaften in Vereinen und Gewerkschaften sowie Bankkonten als unterstützende Beweise herangezogen wurden. Der EGMR stellte fest, dass dies nicht den Anforderungen an eine organische Verbindung, die auf Kontinuität, Vielfalt und Intensität basiert, sowie an das subjektive Element für die Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation entspricht.
1. Der Inhalt und die objektive Wirkung der EGMR-Entscheidung im Fall Yüksel Yalçınkaya
a) Wesentliche Feststellungen in der Entscheidung Yüksel Yalçınkaya
In der Entscheidung Yüksel Yalçınkaya stellte der EGMR erhebliche Probleme in Bezug auf die Beweiswürdigung und das Recht auf ein faires Verfahren fest. Er betonte, dass es systematische Probleme bei der Bewertung und Verwendung von Beweismitteln gibt, die gegen Einzelpersonen vorgebracht werden, die in der Türkei unter ähnlichen Anschuldigungen angeklagt sind. Darüber hinaus stellte der EGMR klar, dass diese Entscheidung (als „leading case“) auf ähnliche Fälle angewendet werden würde.
Dieser Ansatz des EGMR beschränkt sich nicht nur auf die Feststellung einer Verletzung in einem Einzelfall, sondern zielt auch auf strukturelle Defizite im türkischen Strafrechtssystem ab. Dies stärkt die objektive Wirkung der Entscheidung und zeigt, dass sie als Präzedenzfall für ähnliche Fälle dient.
b) Die objektive Wirkung von EGMR-Entscheidungen
Der EGMR berücksichtigt nicht nur die Streitigkeiten der jeweiligen Beschwerdeführer, sondern auch systematische Verletzungen, die ähnliche Situationen in Vertragsstaaten betreffen. Die Gerichte der Mitgliedsstaaten sind verpflichtet, EGMR-Entscheidungen auf vergleichbare Sachverhalte anzuwenden. Gemäß dem „lebenden Instrument“-Ansatz des EGMR sollen die Entscheidungen des Gerichts als Leitfaden für die Rechtssysteme der Vertragsstaaten dienen.
Daher legt die Entscheidung Yüksel Yalçınkaya verbindliche Standards fest, die auch auf andere Personen in vergleichbaren rechtlichen und tatsächlichen Situationen angewendet werden müssen. In der Entscheidung heißt es:
„Nach der Rechtsprechung des Gerichts erfordert die Umsetzung eines Urteils, das auf einem systemischen Problem beruht, das eine Vielzahl von Menschen betrifft, die Ergreifung allgemeiner Maßnahmen auf nationaler Ebene. Obwohl das Pilotverfahren gemäß Regel 61 der Verfahrensordnung des Gerichts häufig angewandt wird, hat das Gericht auch in Fällen, in denen dieses Verfahren nicht angewandt wurde, auf allgemeine Maßnahmen hingewiesen. Ziel solcher Maßnahmen ist es, durch die Lösung systemischer Probleme auf nationaler Ebene die Vertragsstaaten dabei zu unterstützen, ihre Rolle im Rahmen des Übereinkommens zu erfüllen.“
(Yüksel Yalçınkaya/Türkei, Fall Nr. 15669/20, Rn. 415)
2. Die Rechtswidrigkeit der Ablehnungsentscheidungen des Verfassungsgerichts
a) Die Missachtung der Verbindlichkeit von EGMR-Entscheidungen
Das türkische Verfassungsgericht hat bei der Bewertung der Individualbeschwerden argumentiert, dass die Entscheidung Yüksel Yalçınkaya nur auf den konkreten Fall beschränkt sei und keine Bindungswirkung für andere Fälle habe. Diese Auffassung ignoriert jedoch die verbindliche und richtungsweisende Natur von EGMR-Entscheidungen. Der EGMR hat in der Entscheidung Yüksel Yalçınkaya die Umstände, die zur Feststellung einer Verletzung führten, klar umrissen und betont, dass ähnliche Umstände auch in anderen Fällen zu Verletzungen führen würden.
b) Die fehlende Prüfung der konkreten Umstände
Die pauschale Ablehnung der Individualbeschwerden durch das Verfassungsgericht schwächt die Funktion des Individualbeschwerdemechanismus. Jede Beschwerde muss im Rahmen ihrer individuellen Umstände geprüft werden, doch das Verfassungsgericht hat diese Verpflichtung nicht erfüllt. Dies widerspricht dem in Artikel 36 der türkischen Verfassung garantierten Recht auf Zugang zum Recht.
c) Die Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren
Durch die Ablehnung der Individualbeschwerden perpetuiert das Verfassungsgericht die vom EGMR festgestellte Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren. Dies steht im Widerspruch zu den internationalen Verpflichtungen der Türkei sowie zu Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK).
3. Die objektive Wirkung von EGMR-Entscheidungen und die Verantwortung des Verfassungsgerichts
a) Der Präzedenzcharakter von EGMR-Entscheidungen
In der Entscheidung Yüksel Yalçınkaya hat der EGMR eindeutig erklärt, dass er in ähnlichen Fällen denselben Ansatz verfolgen wird. Dies bedeutet, dass eine Entscheidung des EGMR dazu verpflichtet, dass die Mitgliedsstaaten in ihren allgemeinen Praktiken Korrekturmaßnahmen ergreifen. Das Ignorieren dieser Entscheidung durch das türkische Verfassungsgericht schwächt die Wirksamkeit des internationalen Menschenrechtsrechts.
b) Artikel 90 der Verfassung und die Verpflichtung des Verfassungsgerichts
Artikel 90 der türkischen Verfassung betont die Überordnung der EMRK im nationalen Rechtssystem. Wenn das Verfassungsgericht diese Verpflichtung missachtet und EGMR-Entscheidungen ignoriert, führt dies dazu, dass die Türkei ihre internationalen rechtlichen Verpflichtungen nicht erfüllt. Dies schwächt zudem die Schutzmechanismen der Menschenrechte und behindert den Zugang der Bürger zur Justiz.
c) Die Verletzung des Rechts auf wirksame Beschwerde
Die Haltung des Verfassungsgerichts verhindert, dass Einzelpersonen ihre Rechte, die sich aus der Rechtsprechung des EGMR ergeben, wirksam ausüben können. Dies führt zu einer Verletzung des in Artikel 13 der EMRK garantierten Rechts auf eine wirksame Beschwerde. Darüber hinaus könnte die Missachtung von EGMR-Entscheidungen dazu führen, dass das Verfassungsgericht nicht mehr als wirksamer innerstaatlicher Rechtsweg betrachtet wird.
4. Fazit und Empfehlungen
Die Entscheidung des türkischen Verfassungsgerichts, die Beschwerden im Zusammenhang mit der Entscheidung Yüksel Yalçınkaya auf den konkreten Fall zu beschränken und die Individualbeschwerden abzulehnen, verstößt sowohl gegen die Grundprinzipien der türkischen Verfassung als auch gegen die der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK).
Empfehlungen:
Umsetzung der EGMR-Entscheidungen: Das Verfassungsgericht sollte die in der Entscheidung Yüksel Yalçınkaya aufgezeigten Feststellungen berücksichtigen und ähnliche Individualbeschwerden erneut prüfen.
Einzelfallprüfung: Das Verfassungsgericht sollte jede Individualbeschwerde auf der Grundlage der jeweiligen Umstände prüfen und auf pauschale Ablehnungsbegründungen verzichten.
Stärkung der Menschenrechtsstandards: Die Türkei sollte notwendige Reformen in ihrem nationalen Recht durchführen, um dem Prinzip der Verbindlichkeit von EGMR-Entscheidungen gerecht zu werden.
Schlussfolgerung:
Die Ablehnungsentscheidungen des Verfassungsgerichts verstoßen gegen das Prinzip der objektiven Wirkung von EGMR-Entscheidungen und behindern die Verantwortung, die Rechte der Einzelpersonen wirksam zu schützen. Die Abkehr von diesem Ansatz ist unerlässlich, um die Funktionsfähigkeit der Menschenrechtsschutzmechanismen und die Erfüllung der internationalen Verpflichtungen der Türkei zu gewährleisten.